Bewusstheit ist ein Aussichtspunkt, eine Warte, von der aus du dein Wesen überblickst


Da- Sein

Soyez les presents! Seid da!

Auf den ersten Blick eine seltsame Aufforderung. Ich bin ja da.

Und trotzdem sind wir manchmal körperlich zwar an einem bestimmten Ort, aber uns selbst, und das, was um uns herum geschieht, nehmen wir nicht wahr. Weil wir z.B. schlafen, oder träumen, oder uns intensiv mit etwas beschäftigen, sodass wir uns und unsere Umwelt nicht wahrnehmen.

Darum wird Da-Sein oft auch als Achtsamkeit beschrieben. Achtsamkeit, als Wahrnehmung von sich selbst und der Umwelt.

Warum ist das so wichtig? Es lebt sich anders doch ganz gut!

Präsentsein, gegenwärtig sein, da-Sein, achtsam sein will uns davor bewahren, uns lediglich in der Vergangenheit oder in der Zukunft zu tummeln. Und dort sind wir oft, und zwar, ohne dass wir es merken. Wie schnell driften wir ab in schöne Erinnerungen und träumen vom schönen Strand. Manchmal treten wir regelrecht in diese Welt noch einmal ein, und erleben die schönen Erinnerungen neu. Wir sind also irgendwo in der Vergangenheit gelandet. Das kann aber auch ganz schön unangenehm werden, wenn uns Scham oder Schuldgefühle heimsuchen. Auch dann tummeln wir uns in der Vergangenheit.

Nur zum besseren Verständnis: Ich habe nichts dagegen, dass wir aus der Vergangenheit und schönen Erinnerungen Kraft schöpfen. Und ich habe auch nichts dagegen, dass wir aus vergangenen Fehlern lernen.

Aber: Ich finde, wir sollten darum wissen, dass wir das tun.

Und ich habe auch nichts dagegen, dass wir für die Zukunft planen. Vom Arbeitsablauf bis zum Menü für das nächste Festessen. Aber sehr schnell verlieren wir uns in Sorgen darüber, ob dann alles so gelingt wie es sollte. Oder wir mogeln uns über eine präzise Planung hinweg in der Hoffnung, dass es schon irgendwie gut gehen wird.

Ob vergangen oder künftig, ob angenehm oder unangenehm: die ganze Wirklichkeit ist jetzt. Nicht in den letzten Ferien oder im peinlichen Vorfall von vorgestern, nicht in der Sorge für übermorgen und nicht der Hoffnung auf eine sorglose Zukunft. Die Wirklichkeit ist jetzt.

Die Beispiele, die ich eben genannt habe, sind darum relativ harmlos, weil wir ziemlich schnell merken, dass wir «woanders» waren.

Häufig aber reisst uns Unbewusstes aus der Realität des Jetzt, und wir merken es nicht.

Ein Beispiel: Als ich noch unterrichtete machte ich zu Beginn meiner Lektionen bei den SchülerInnen jeweils eine kurze Umfrage: Was hat dich in der letzten Woche erfreut? Sie erzählten dann jeweils, dass sie «draussen» waren, also sich sie mit ihren FreundInnen getroffen haben, oder dass es ein feines Essen gab, oder dass sie in einem Test eine gute Note machten, etc. Ein Schüler erzählte regelmässig, dass er beim Fussballtraining Kollegen so grob gefoult habe, dass sie weinen mussten. Es hat ihn also erfreut, dass er ihnen so weh tun konnte, dass sie in Tränen ausbrachen. Er war auf dem Fussballplatz entsprechend gefürchtet. Für ihn war das normal. Ihm war nicht bewusst, dass er sich damit insgeheim für Kränkungen rächte, die er ganz woanders erlebt haben musste (Er schaffte es aber schliesslich, sich auf angemessene Weise Respekt zu verschaffen).

Wir alle leben Muster und Zwänge, um die wir nicht wissen. Mit anderen Worten: Etwas hat Macht über uns, und wir wissen es nicht. Etwas, um das wir nicht wissen, bestimmt unser Verhalten, unser Denken und Fühlen. Und wir behaupten allen Ernstes, wir seien frei.

Den Streichen, die uns Unbewusstes uns spielt, sind wir alle ausgeliefert, ausser eben, wir sind präsent. Weil: Das Unbewusste nährt sich aus Erfahrungen in der Vergangenheit. Aus diesen Erfahrungen haben wir etwas gelernt. Und das ist grundsätzlich richtig. Wir zögern, im Coop etwas an der Kasse vorbei zu schmuggeln, weil wir unbewusst denken: «Stehlen darf man nicht.» Wir brauchen Ausreden, obwohl unser Gewissen sagt, man müsste die Wahrheit sagen. Wir haben nämlich gelernt, dass wir so ungeschoren davonkommen können.

Wir haben aber auch lernen müssen, wie weh es tut, übersehen zu werden. Um diesem Schmerz des nicht gesehen Werdens zu entgehen, haben sich Muster entwickelt. Der oder die eine biedert sich immer an, jemand anderes ist immer sofort zur Stelle, wenn er annimmt, er könne helfen, trösten. Jemand anderes stänkert ständig, oder stört oder reklamiert wegen der kleinsten Ursache. Die wenigsten merken dabei, dass sie von einer Sehnsucht getrieben werden, um die sie nicht wissen: Gesehen werden, wahrgenommen werden, ernstgenommen werden.

Nichts gegen dieses Bedürfnis! Hüten wir uns davor, das Unbewusste zu verurteilen! Hüten wir uns davor, unsere Bedürfnisse zu verurteilen, oder zu beurteilen. Sie sind Teil unseres Lebens.

Wenn wir da sein wollen, dann heisst das demnach nichts anderes, als einen Weg nach innen zu gehen. Wir lernen uns kennen, wir lernen uns und unsere Beweggründe kennen. Je besser wir uns kennen, desto besser verstehen wir uns.

Je besser wir uns verstehen, desto mehr können wir uns mögen.



Wertungen sein lassen

Es scheint mir ein Grundproblem der heutigen Gesellschaft zu sein, dass wir sehr schnell zu wissen meinen, was gut ist und was schlecht.

Ich plädiere dafür, etwas erst einmal einfach als gegeben zu betrachten.

Zugegeben, es gibt Dinge und Menschen, die machen einem tatsächlich das Leben schwer. Die pedantische Chefin, der ambitiöse Arbeitskollege, der immer besser als alle anderen dastehen will. Die Verspätung des Busses, das ewig schmutzige Treppenhaus…

Was uns gelingt ist gut, was uns nicht gelingt ist schlecht. In diesem Korsett von «gut» und «schlecht» bewegen wir uns und versuchen, «gute» Menschen zu sein. Dieses «Gutsein» ist eigentlich nichts anderes als eine kindliche Erbsenzählerei: Soviel Gutes habe ich gemacht, soviel Schlechtes. Darum komme ich dann in den Himmel. Aber dieses Urteil hindert uns, tatsächlich miteinander und mit uns selbst in Beziehung zu treten.

Ich könnte zum Beispiel das wahrnehmen was ich erfahre: Es freut mich, wenn etwas gelungen ist. Oder: Etwas ist nicht gelungen, und das tut weh. Natürlich ist die Tatsache, dass es weh tut, nicht angenehm und wir würden das am liebsten nicht spüren müssen. Aber das scheint mir der ehrlichste Weg zu sein. Die Freude über das Gelungene geniessen wir ja auch. Obwohl: viele können nicht einmal das, weil sie Angst haben, allzu bald wieder im Tal der Tränen zu landen.

Freude und Schmerz bei sich wahrnehmen. Das tut gut, das tut weh. Das spürt man, wenn man wach ist und bei sich.

Anders ist es mit Wertungen. Die sind nämlich meistens gelernt oder angewöhnt. Das heisst, wenn wir werten, begeben wir uns in eine andere Welt, als die, die wir spüren. Es gibt andere Gründe, warum mir etwas nicht so gelungen ist, wie ich es gerne gehabt hätte, als «ich bin eben schlecht». Vielleicht war ich überfordert, aber sicher nicht «schlecht». Vielleicht war ich unkonzentriert, aber sicher nicht «schlecht».

Wenn wir werten, fällt immer etwas weg. Wenn wir sagen, dass etwas schlecht sei, dann sehen wir all das gute das auch daran hängt, nicht mehr. Und wenn wir sagen, ich bin ein schlechter Mensch, dann sehen wir all das gute, das wir in uns tragen, nicht.

Genauso ist es, wenn ich sage, ich bin ein guter Mensch. Dann hebe ich mich über meine Abgründe hinweg.

Natürlich dürfen wir stolz sein, wenn uns etwas gelungen ist. Aber das macht uns nicht zu einem besseren Menschen, als der, dem es nicht so gut gelungen ist. Auch wenn wir (arroganterweise) meinen, uns halt mehr angestrengt zu haben, als der andere.

Wertung ist ein System ausserhalb von uns. Wenn wir werten, dann binden wir uns an gelerntes aus der Vergangenheit. Das macht man nicht, das ist böse. So ist man, das ist gut. Wertung ist also nicht da Sein, Wertung führt uns weg von uns.

Wenn wir dereinst «vor der Himmelstür stehen», dann werden wir nicht gefragt: So, wieviel Gutes hast du getan? Und wieviel schlechtes hast du getan?

Uns werden Fragen gestellt wie: Wie warst du in Beziehung? Warst du lieb zu dir oder hast du dich «verwertet»? Warst du da, sodass du in Beziehung treten konntest, oder warst du weit weg von dir?

Natürlich tut dir die pedantische Chefin weh, mit ihren Wertungen. Vor allem deshalb, weil sie in ihren Wertungen dich nicht als ganzen und wertvollen Menschen sehen kann. Das tut weh, und zeigt, was ich sagen wollte: Wertung verhindert echte Beziehung. Und das tut weh.

Aber deshalb ist die Chefin kein schlechter Mensch. Sie ist gefangen, in ihrem Wertesystem. Das macht sie nicht besser oder schlechter als dich und mich.

Natürlich ist der ambitiöse Kollege, der sich immer vordrängt, eine Herausforderung. Es tut weh, wenn er das Lob, das dem Team gebührt nur auf sich münzt. Es tut deshalb weh, weil er offensichtlich nicht in Beziehung treten kann. Denn er sieht seine Kollegen gar nicht wahrhaftig, sondern lediglich als Konkurrenten. Aber auch wenn das weh tut, ist er kein schlechter Mensch. Auch er ist gefangen in seinem Wertesystem. Aber das macht ihn nicht besser oder schlechter als dich und mich. Und wenn er das meiste Lob von der pedantischen Chefin einheimst, macht ihn das keineswegs zu einem besseren Menschen als alle anderen. Obwohl er das vielleicht so sieht. Aber es tut weh, mit ihm zu sein, weil er nicht in Beziehung ist.

Natürlich ist es unangenehm, wenn zum Beispiel die Sauberkeit des Treppenhauses oder die Pünktlichkeit des Busses nicht meiner Idealvorstellung entspricht. Es tut weh. Und, um diesem Schmerz zu entkommen, ist Wertung ein Ausweg. «Dann haben wir eben einen blöden Hauswart, oder einen doofen Chauffeur und überhaupt…»

Beispiel Fussballfans: Ein Kollege, mit dem man kann eigentlich gut reden kann, ist ausgerechnet Fan, von dem Klub, der morgen gegen den eigenen Fan-Klub spielt. Und sofort ist er schlecht, ein Feind, ein Arschloch, einer der verprügelt werden soll. Das Fan-Wesen ist mit seinen krassen Wertungen eine Form von nicht Da-Sein.

Wertung reisst uns also aus dem Bezug. Wir verlieren den Kontakt zu uns, und wir verlieren den Kontakt zu unseren Mitmenschen.

Beziehung heisst ja: Sehen und gesehen werden. Wenn wir werten, dann sehen wir nicht mehr wahr, sondern wie «es» sein soll oder nicht sein soll.

Wenn wir mit uns in Beziehung bleiben, können wir hingegen feststellen, dass etwas freut, oder wehtut, oder kalt lässt, oder interessiert, oder traurig stimmt, oder zum Lachen bringt. Unserer Wahrnehmung steht eine breite Palette zur Verfügung, wie wir dem was uns begegnet unsererseits begegnen.

Beziehung zu uns selber und zu unserer Umgebung heisst «Sehen» und nicht Werten. Sich in der Welt wahrnehmen, und die Welt in sich wahrnehmen.

Wahr nehmen.


Sich lieben lernen

Wenn ich mich lieben lernen will, nehme ich zuerst Beziehung mit mir auf. Ich beginne, mich zu spüren, mich genauer wahr zu nehmen, mir zuzuschauen, oder besser gesagt, mir zuzuspüren.

Ich stelle z.B. fest, ob ich schwitze, ob ich kalte oder warme Füsse habe. Oder ob ich irgendwo Schmerzen habe. Oder ob ich mich frisch fühle oder müde. Ganz einfache Sachen.

Ich kann auch feststellen, ob ich mich wohl fühle, ob ich traurig oder fröhlich bin, ob ich Angst habe oder lange Weile, oder ob ich interessiert bin. Oder ich kann feststellen, ob ich um mich genüg Raum habe, oder ob ich mich eingeengt fühle.

Voraussetzung dafür ist natürlich, dass ich meinen Körper tatsächlich spüre. Ich bin ja oft so beschäftigt, dass ich mich nicht spüre.

Ich atme deshalb immer wieder mal durch, und komme zu mir zurück.

Ich nehme zuerst einfach mal wahr. Ich versuche nicht, etwas zu ändern, oder zu «verbessern».

Häufig ist es so, dass wir Dinge spüren, die wir nicht mögen. Z.B. körperlichen Schmerz. Oder den eingeschlafenen Arm. Bevor ich daran etwas ändere, spüre ich es. Nur kurz, aber ich wage es.

Den eingeschlafenen Arm kann ich relativ schnell ändern. Das muss ich auch. Anderes nehme ich einfach wahr, ohne es zu ändern. Ich lasse es erst mal sein. So lerne ich, zu spüren. Wollte ich etwas ändern, besteht die Gefahr, zu werten. Und das möchte ich ja sein lassen.

Ich stosse also auf Unangenehmes. Zum Beispiel, dass ich Angst habe, oder dass ich hinter einer Maske versteckt bin (dass mir ums Heulen ist, ich das aber nicht zeige), oder dass ich unsicher bin, oder mich schäme, oder oder oder… Das alles versuche ich einfach einmal festzustellen. «Aha, das ist bei mir so.» Ich gehe mal nicht darüber hinweg.

Vielleicht merke ich, dass ich es kaum aushalte, weil es so unangenehm ist. Wenn es allzu unangenehm wird, lenke ich mich ab. Aber bewusst!

Ich muss das betonen. Die meisten Menschen stellen sich nämlich sich selber nicht. Sie entfernen sich von sich in allerlei Mustern. Und sie wissen es nicht einmal.

Schauen wir nochmals die pedantische Chefin an: Ihre Pedanterie ist ein Ventil für irgendein Unbehagen, das in ihr steckt. Wir wissen nicht, welches. Aber da ist eines. Mutmasslich Angst, die erwartete «Performance» nicht zu erbringen, oder generelle Unsicherheit im Führen von MitarbeiterInnen…

Solche unbewussten Ausweichmuster kenne ich ja auch, und deshalb muss ich lernen, mich so genau wie möglich wahr zu nehmen. Z.B. wenn ich beim Autofahren zornig werde, zu schimpfen und zu verwünschen beginne, weil ein anderer Verkehrsteilnehmer sich anders verhält als ich erwarte, und ich mich dadurch bedroht fühle. Dann bin ich in einen «Film» geraten. Ich bin nicht mehr da, ich bin in eine andere Welt geraten, als die wahre. Dieser Verkehrsteilnehmer ist nämlich kein Todfeind obwohl ich ihn gerade wie einen solchen beschimpfe.

Ich bin nicht der einzige, der sich unwillkürlich in einem «Film» wiederfindet. Fast meine gesamte Umwelt besteht aus «im Film sein», aus Rollen die darin gespielt werden (müssen). Auch die besagte pedantische Chefin ist in einem Film, der ihr die pedantische Rolle zuweist, ohne dass sie es merkt. Und jede Reklame versucht mich in ihren «Film», ihre Fantasiewelt, hinein zu locken. Sodass ich fast tatsächlich glaube, ich müsste dieses aufreizend beworbene Produkt kaufen, um endlich glücklich zu werden. 

Ich will merken, dass ich nicht da bin. Denn ich muss da sein, um mich lieben zu können. Tatsächlich reisst «Es» mich sehr oft in einen Film, in ein Muster. Oder «es» hält mich hinter meiner Maske gefangen. Das ist reflexartig in mir drin. Und wir Menschen funktionieren so. Ein kleiner Auslöser, und schon sind wir in irgendeiner irrealen Szenerie. Und dafür könnte ich mich hassen oder schämen… was auch immer.

Ein Merkmal dafür, dass ich nicht da bin, ist unangemessenes Verhalten. Also, dass ich wütend werde, obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gibt. Oder dass ich streite, oder übermässig nett bin… Sobald ich die Unangemessenheit bemerke, atme ich durch. Und bin wieder da. Ich muss mich nicht ändern.

Für das Unangemessene und Musterhafte braucht es Verständnis. Es hat seinen Grund! Ich muss nur versuchen, bei mir zu bleiben, da zu bleiben und mich zu verstehen. Immer im Bewusstsein, dass ich es wirklich so gut mache, wie ich kann. Auch wenn es nicht perfekt gelingt.

Der erste Schritt zur Selbstliebe ist, dass ich dafür Verständnis habe. Ich musste mir solche Muster oder die Maske zulegen, weil ich mich schützen musste, vor dem grossen Unbehagen, das mich zu überwältigen drohte.

Wenn ich also feststelle, dass ich nicht mehr bei mir bin, kann ich durchatmen, und bin wieder da. Auch wenn ich die Rolle immer noch spiele. Ich brauche es bloss zu wissen, zu spüren, vielleicht spüre ich auch, wie weh es tut, dass ich nicht so bin, wie ich bin. Weil ich Mensch bin, darf ich menschlich sein, ich darf mich verlieren. Das darf ich mir zugestehen. Und ich muss mich darin verstehen lernen.

 Wenn ich dafür kein Verständnis hätte, müsste ich mich ändern. Und das wäre das Gegenteil von «mich Lieben». Es wäre Krieg gegen mich.

Im Aushalten von Spannungen, im Da-Bleiben, im mich Verstehen, da öffnen sich Wege in mein Inneres. Ich kann meine Echtheit wiederfinden, meine Verbundenheit mit mir. Ich kann mir den Raum geben, in dem auch die Liebe zu mir Platz findet.

Das alles geht nicht von heute auf morgen. Es braucht Zeit, Zeit und noch einmal Zeit. Und damit viel Geduld, und viel Verständnis.


Eigenschwingung

Eigenschwingung oder Eigenresonanz ist etwas Spannendes. Wenn man beispielsweise ein Glas mit seiner Eigenfrequenz beschallt, kann es zerspringen. 

Eigenschwingungen können grosse Gefahren bei Bauwerken darstellen. So ist zum Beispiel in all den grossen Hochhäusern eine Schwingungsdämpfung in Form eines grossen Pendels eingebaut. Es soll das Schwingen in Eigenfrequenz verhindern. Das Gebäude würde einstürzen. Diese Schwingung könnte durch Erdbeben oder vor allem durch Windböen entstehen. 

Bei Brücken ist das ebenfalls ein Problem, vor allem bei Hängebrücken. Eine Brücke in England soll eingestürzt sein, nachdem eine militärische Formation im Gleichschritt darüber marschierte.  Aber auch Seile von Luftseilbahnen oder Hochspannungsleitungen müssen Schwingungstilger haben, damit sie nicht in Eigenschwingung geraten.

Analog können auch wir Menschen in Schwingung gebracht werden. Wenn wir fröhlich sind, sagen wir, wir seien beschwingt. Je nach Sensibilität bringen uns Erlebnisse in Schwingungen, auch in weniger lustige, heftige. Wir können Angst bekommen, uns Sorgen machen, uns ärgern, neidisch, traurig werden. Das alles sind auch Formen von Beschwingtheit.

So sehe ich auch eine Gefahr durch „Eigenschwingung“ oder „Eigenresonanz“. Wir können durch ein Erlebnis dermassen in Aufruhr geraten, dass es in uns zerstörerisch wirkt. Wir müssen diese Schwingungen Dämpfen lernen. Ein gutes Beispiel dafür ist Eifersucht. Es beginnt mit einem Verdacht. Jetzt sucht die betroffene Person weiter nach Fakten, die den Verdacht bestätigen. Sicher gibt es solche, aber auch andere. Durch die gezielte Auswahl der verdachts-bestätigenden Fakten kann sich diese Person nun so in eine Emotion hineinsteigern, die die Beziehung scheitern lässt.

Um sich so hineinsteigern zu können, braucht es eine Vorprägung, also ein ähnliches Erlebnis, welches dem Erleben sozusagen den Weg vorgibt, den es zu gehen hat. 

Dass man diesen musterhaften Weg einmal mehr eingeschlagen hat, merkt man meistens erst hinterher. Wir merken dann: Irgend etwas Unbewusstes hat in uns gesiegt, und uns seinen Willen aufgedrückt. 

Das muss nicht unbedingt sein. Diese Eigenschwingung können wir dämpfen. Dazu braucht es viererlei:

1. Einhalten: 
Stoppen, Unterbrechen, Durchatmen
2. Achtsamkeit: 
Merken, was abgeht. Ich bin jenseits des Angemessenen! Deuten können: Muster?
3. Verständnis: 
Den Hintergrund des Geschehens verstehen. Sich verstehen, mit sich Frieden schliessen. Keinesfalls inneren Krieg führen: „Ich will das loswerden“. Etwas loswerden wollen funktioniert nie!
4. Erfahrungen sammeln: 
Was löst solche Reaktionen aus? Wie kann ich es evtl. vorausahnen? Gelassenen Umgang lernen: Ich kann es aushalten.

Damit sind wir wieder bei der Meditation angelangt. Sie ist der grosse Schwingungsdämpfer. Sie rückt vieles ins rechte Licht. Sie holt uns aus den vielen emotionalen Schwingungen und deren Illusionen zurück in die Realität. In die Gegenwart. In die Ruhe.


Poller

Wenn eine Fähre vom Meer in einen Hafen einfährt, geht meistens folgendes Szenarium los: Vom Heck, oder dem Teil des Schiffs der ans Ufer kommen muss, werden mit einem Ball beschwerte Leinen hinuntergeworfen. Das meistens von beiden Seiten. Diese Leinen werden von einer Person am Ufer entgegengenommen. Diese Person zieht nun an dieser Leine ein dickes Tau vom Schiff zu sich. Am Ende dieses Taus ist eine Grosse Schlaufe eingespleisst. Diese Schlaufe wird nun über einen dicken metallenen Pfosten gelegt. Dieser Pfosten ist relativ niedrig und hat oben meist eine Verdickung, damit das Tau nicht abrutschen kann. Und er ist in der Kaimauer einbetoniert. Dieser metallene Pfosten nennt sich Poller.

Sobald das dicke Tau über diesen Poller gelegt ist, wird das Tau auf dem Schiff gespannt. Die Fähre wird jetzt mit diesen dicken Seilen an den Kai herangezogen, und die Fähre ist sicher im Hafen festgemacht. Jetzt wird die grosse Heckklappe, die zugleich Landungsrampe ist, abgesenkt und die Passagiere können aus- und einsteigen, die Autos und Lastwagen können aus- und einfahren. Das ist die Ursprüngliche Bedeutung für Poller. Heute werden Poller auch als Absperrung aufgestellt etc.

Das Schiff, das am Poller festmachen muss, um sicher zu sein, ist für mich auch ein Bild für uns als Personen. Wir suchen in emotionaler oder wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Unsicherheit auch so etwas wie einen Poller, etwas Festes, woran wir uns halten können.

Seit Beginn der Corona-Massnahmen erlebe ich ein emotionales Kesseltreiben fast biblischen Ausmasses. Dort wird ja auch vor falschen Propheten gewarnt. Ist Corona jetzt tatsächlich eine Gefahr, oder nur ein «Grippchen»? Ist es nur eine Erfindung mit der sich irgendwelche Mächte nur bereichern wollen oder gar die Weltherrschaft übernehmen wollen? Will sich jemand mit Corona die Krone aufsetzen und uns beherrschen und uns die Freiheit nehmen? Und seltsamerweise gibt es für alle diese Meinungen offenbar irgendwelche Beweise, man muss nur 2+2 zusammenzählen. Was gilt denn noch? Was ist wahr? Eine Meinung jagt die andere, und jede ist emotionaler als die andere. Unser Schiff droht den Halt zu verlieren.

Was könnte für uns in dieser Verwirrung dieser Poller sein?

Der Poller ist die Gegenwart, resp. unser Gewahr-Sein dessen, wer wir sind, resp. das Wissen darum, welche Emotionen uns von uns selbst wegtreiben wollen.

Das tönt vielleicht seltsam, wenn ich sage, ich müsse mich an mich selbst binden. Ich muss mir selber Poller sein. Weil damit stehe ich allein da und habe eine gewaltige Verantwortung.

Ich sags mal so: Die Ruhe, die wir suchen, ist wie die Leine, welche die Matrosen vom Schiff herunterwerfen. Sie ist eine erste feine Verbindung zum festen Ufer. An ihr hängt als dickes Tau das Durchatmen, welches uns mit unserer Realität verbindet und an den Poller der inneren Gewissheit gehängt wird. Und an diese Gewissheit können wir uns heranziehen, indem wir nichts anderes tun, als atmen, den Atem spüren und immer weiter ruhig werden. Das ist unsere erste Verantwortung: Dass wir so zu uns selber zurückfinden. Auch wenn die Hektik spannender scheint, und die Ruhe mühsam.

Wenn wir mit uns verbunden sind – und das geschieht nicht von einer Sekunde auf die andere – sind wir mit dem Ganzen verbunden. Mit der Verbundenheit mit uns werden die Wellen der Hektik und das Erlebte und die Emotionen weniger wichtig, wir können uns auf den Augenblick konzentrieren, auf das Jetzt.

Diese Verbundenheit mit sich selber ist in Zeiten der öffentlichen Hetze und des Aufruhrs umso wichtiger. Nur so gewinnen wir die nötige Distanz dazu und finden Halt in uns selber. Dann sind wir auch wieder fähig, uns zu öffnen und in Austausch zu treten.

Das dich mit dir Verbinden durch den Atem, ist zuerst eine mühselige rationale Angelegenheit. Ich muss immer darauf achten, zum Atem zurückzukommen. Es geht so vieles durch den Kopf, wie wir sagen, eigentlich geht es durch unsren ganzen Körper hindurch. Aber mit der Zeit ebbt das ab, und du kannst länger einfach beim Atem sein.

Wenn du dies öfters übst, kehrt eine Freude an dir selbst in dir ein. Und du kannst spüren, wie dich die Verbundenheit mit dir mit dem Segen der Selbstliebe überschüttet. Die Verbundenheit mit dir weist weit über dich hinaus in eine universelle Verbundenheit.

Du kannst gelassen der Welt begegnen, weil du am Poller der Verbundenheit mit dir fest verankert bist.


Zeit

In unseren Körpern erleben wir Zeit als linear. Die Zukunft kommt, die Vergangenheit entfernt sich. Zeit ist eine lineare Konstante.

Als Bild für die Zeit stelle ich mir einen Wasserfall in einem Fluss vor. Der Wasserfall verkörpert die Gegenwart. In der Gegenwart stürzt sich die Zukunft sozusagen in Vergangenheit. Die Zukunft fliesst heran und stürzt im Wasserfall der Gegenwart in die Vergangenheit und fliesst als solche immer weiter weg.

Mein Leben stelle ich mir vor, wie ein Stück Holz, das im Strudel dieses Wasserfalls ständig herumgewirbelt wird. Mal schwimmt es obenauf, dann wird es im Sog der Wasserwalze wieder hinuntergezogen und taucht wieder auf. Dieser Strudel lässt das Holz nicht los. Es kommt nicht raus.

Die Zukunft kommt manchmal als leiser Bach daher, manchmal wild und übermächtig. Manchmal schwimmt das Holz in ruhigem Wasser obenauf, manchmal wird es im Getöse umhergeworfen, geschüttelt, überspült und umschäumt.

In der Gegenwart verbringe ich mein Leben, ähnlich wie dieses Holzstück im Wasserfall. Manchmal schwimme ich ruhig obenauf, manchmal werde ich geschüttelt und gerüttelt, dass ich kaum mehr Atem holen kann.

Die Gegenwart, das Jetzt, ist übrigens für alle Menschen gleich. Im Jetzt ist uns niemand voraus und niemand hinkt hinterher. Jetzt ist für alle jetzt. Ob in Afrika oder China, ob in Australien oder Europa. Auch wenn an anderen Orten jetzt Tag ist, und bei uns Nacht, ist das Jetzt für alle das gleiche Jetzt. Ob jemand schläft oder wach ist, ob er Sport treibt oder am Computer sitzt, ob er Science Fiction ausdenkt oder Geschichtsstudien betreibt: Jetzt ist für alle jetzt.

Jetzt-Zeit ist Entwicklungsraum für die Seele. Zeit ist ein Segen. Am segensreichsten ist es, wenn wir möglichst im Jetzt sind, in der Gegenwart. Das fällt uns gar nicht so leicht, weil uns Gedanken und Emotionen aus der Erinnerung, also aus der Vergangenheit beschäftigen oder Hoffnungen, Pflichten und Pläne aus der Zukunft. Wie wahr und wie wichtig das alles ist, sagt das jetzt. Das Jetzt ist der Boden, der uns aus den Aufregungen des Strudels innerlich zur Ruhe bringt, und uns je länger desto mehr mit uns selber in Frieden und Harmonie bringt und mit allen Menschen eint.